Auftaktveranstaltung der FIS- Nachwuchsgruppe „Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme“ am 8. März 2018 an der Universität Siegen
Am 8. März 2018 fand die Auftaktveranstaltung der FIS-Nachwuchsforschungsgruppe „Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme“ statt. Drei Jahre beschäftigt sich die Forschergruppe, die Dr. Nadine Reibling leitet, damit, welche Rolle Medizin und Psychologie bei sozialpolitischen Maßnahmen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und frühkindliche Entwicklungsprobleme aktuell spielen und welchen Beitrag sie zur Lösung dieser Probleme leisten können.
Die Gäste wurden von Laila Heitmann vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Professor Claus Wendt von der Universität Siegen begrüßt. Der anschließende Vortrag von Nachwuchsgruppenleiterin Dr. Nadine Reibling spannte danach das Feld des Forschungsvorhabens auf. In den nächsten drei Jahren soll erforscht werden, wie und warum die sozialen Probleme Arbeitslosigkeit, Armut und kindliche Entwicklung immer häufiger in einem medizinischen Kontext diskutiert und analysiert werden. Welche Triebfedern gibt es für diese Entwicklung und welche Chancen aber auch Risiken resultieren daraus?
Im Anschluss stellten die Mitglieder der wissenschaftlichen Begleitgruppe, die sich aus Professoren der Disziplinen Medizin, Psychologie, Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Soziologie, Sozialethik und Wirtschaftswissenschaften zusammensetzt, dar, welche Relevanz und Entwicklungen sie in ihrer Disziplin in Bezug auf die gesundheitliche und psychische Behandlung sozialer Probleme sehen, aber auch welche Probleme und Fragen noch unzureichend erörtert werden. Alle Vortragenden stellten heraus, dass es in der Frage der Medikalisierung und Psychologisierung immer um Grenzsetzungen und Grenzverschiebungen geht. Was ist normal und welcher Grad der Abweichung ist krank? Der Sozialethiker Professor Traugott Jähnichen von der Ruhr-Universität Bochum blickte in diesem Zusammenhang auf die Verschiebung der medizinischen Auseinandersetzung mit Fragen der frühkindlichen Entwicklung, die schon auf die Zeit vor der Geburt verschoben werden. Die Folgen dieser Entwicklung seien noch nicht abzumessen. Auch die Soziologin Professor Pia Schober von der Universität Tübingen setzte sich mit Fragen der frühkindlichen Entwicklung und medizinischen Erklärungen auseinander. Sie beschrieb die hohen Erwartungen an Kinder und an die frühkindliche Bildungspolitik, die nur erfüllt werden könnten, wenn sich alle politischen Ebenen miteinander vernetzten. Um die Akteure ging es auch im Beitrag von Professor Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld. Der Politikwissenschaftler warf unter anderem die Frage auf, welche Akteure eigentlich von der zunehmenden Medikalisierung profitierten. Würden beispielsweise im Bereich der Arbeitslosigkeit immer häufiger Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen getroffen und Arbeitslose in andere Systeme verschoben, welche Akteure profitieren davon? Auch Professor Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen ging auf die Medikalisierung der Arbeitslosigkeit ein und verwies darauf, dass gesundheitliche Einschränkungen ein zentrales Beschäftigungshindernis seien. Der Wirtschaftswissenschaftler beschrieb, dass Problematisierung, Thematisierung und die Einleitung tatsächlicher Maßnahmen bei den Arbeitsagenturen in einem Missverhältnis zueinander stünden.
Die abschließende Podiumsdiskussion mit Teilnehmern aus der Region Siegen schärfte dann den Blick für konkrete Chancen und Risiken des gesundheitlichen Zugangs in der Praxis. Burkhard Lawrenz vom Landesverband der Kinder- und Jugendärzte bestätigte den „Trend zur Therapie“. Für ihn seien Therapien und Förderung bei frühkindlichen Entwicklungsproblemen zwar angebracht, er verwies aber auch auf den „Stempel krank und therapiebedürftig“, den diese Kinder oftmals erhielten. Georg Ritter vom Jugendamt Siegen stellte vor allem heraus, dass der gesundheitliche Zugang - auch über die Vorsorgeuntersuchungen - für die frühzeitige Betreuung der Kinder und Familien, mit denen er arbeitet, sehr wichtig sei. Dieses Spannungsfeld von Überforderung und Vernachlässigung beschrieb auch Klaus Fenster von der Industrie- und Handelskammer Siegen (IHK). Einerseits glaubten viele Eltern, ihre Kinder hätten ohne Abitur keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und bauten enormen Leistungsdruck auf. Andererseits gäbe es viele Jugendliche, die zusätzliche Betreuung benötigten, um eine Ausbildung überhaupt abschließen zu können. Er erörterte, dass das Thema seelische Gesundheit am Arbeitsplatz in den Betrieben sehr ernst genommen werde. Martin Debener vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Nordrhein-Westfalen betonte in diesem Zusammenhang, dass die Geschwindigkeit im Arbeitsleben enorm zunehme, auch durch den technologischen Wandel, der besonders ältere Beschäftige immer mehr unter Druck setze.